Schon kurz nach dem Einchecken ins Hotel in Lille gibt es eine Stadtführung durchs Zentrum. Von der Kapelle im Rathaus der Stadt führt Anne vom ehemaligen Rathaus zur Grand Place: einem quirligen Platz. An einer Treppe steht ein Farbiger. Auf sein selbstgebautes Glockenspiel drischt er mit Trommelschlägern ein. Es klirrt schmerzhaft. Seitlich am Instrument wehen französische Fahnen.
Vor dieser Geräuschkulisse und vorm schönsten Haus der Stadt – La Vieille Bourse – erfahre ich, wie es zum Namen der Stadt gekommen ist. Er setze sich aus Lilie + Insel zusammen, erklärt Anne. Der altfranzösische Name L’Isle leite sich von der ursprünglichen Lage der Stadt auf einer Sumpfinsel im Tal der Deûle ab. Am Giebel ist eine silberne Lilie mit den Löwen von Flandern abgebildet, ein beliebtes Fotomotiv. Die 1653 errichtete Börse setzt sich aus 24 schmalen hohen Häusern zusammen. „Diese Form ist typisch für Flandern“, sagt Anne. Dies habe etwas mit dem Steuersystem zu tun. „Bei einer schmalen Fassade fiel die Steuer nicht so hoch aus.“ In diesen Häusern wohnten 24 Familien der Händler. Flandern wurde 1653 von Philipp von Spanien regiert.
An ein weiteres wichtiges Ereignis erinnert eine Göttin mit einer Kanonenlunte in der Hand. Sie steht hoch auf einer Säule. 1792 belagerten 35.000 österreichische Soldaten die Stadt. Es handelte sich um den ersten Koalitionskrieg zwischen Österreich, Preußen und Frankreich, in den auch Lille involviert war. „Colonne de la Déesse“ heißt die Säule. Auf YouTube kannst Du Annes Vortrag anklicken.

In der Nähe steht „Die Stimme des Nordens“, das 1934 erbaute Haus der Zeitung „La voix du Nord“. 28 Fenster stehen für 28 Ausgaben. Auf dem Dach stehen drei goldene Grazien, die für die früheren Grafschaften Artois, Hainault und Flandern stehen. Die linke Dame zum Beispiel ist mit einem Schiff dargestellt. Sie symbolisiert so die an der Küste liegende historische Provinz Artois. Alle Grafschaften bilden das Departement Nord-Pas-de-Calais mit 4,5 Millionen Einwohnern.
Während Annes Vortrag dreht ein verwirrter Mann wie Tiger im Käfig um unsere Gruppe seine Runden; er stößt Flüche über die Weltverschwörung aus. Etwas fürchte ich mich vor ihm. Denn ich weiß nicht, was er als nächstes tun wird. Inmitten der malerischen Kulisse der Häuser aus der Zeit des Barock und der Renaissance vergesse ich das kühle Erscheinungsbild der Stadt beim Empfang. „Jetzt reicht es mit der Geschichte!“ Anne ruft zur Besichtigung eines schönen Innenhofs auf.